Nach einem beeindruckenden Besuch der pax christi Gruppe Hückelhoven in Auschwitz
brachte ein Mitreisender der Gruppe, Frank Joußen, die folgenden Zeilen zu Papier.

Der Auschwitz Zyklus                        Datei als PDF

"Wer sich nicht an die Geschichte erinnert,
wird sie noch einmal durchleben müssen."

George Santana, Zitat an der Außenmauer
der ersten Baracke in Auschwitz I

1. Vor Auschwitz

- i -

Wenn Kant Recht hatte,
denke ich, ich sehe
‚das Ding an sich',
aber ich muss erkennen,
dass ‚das Ding an sich'
nicht existiert.
Wie wird sich dann ein Ding
wie Auschwitz materialisieren
durch meine Augen,
in meinen Augen?

- ii -

Wenn ein normales Gebäude,
ein normaler Ort
bedeutungsvoll wird
durch all die Menschen,
die dort gelebt haben,
die dort gestorben sind,
welche Bedeutung wird
der abnormalste Ort
für mich bekommen -
und wie werde ich jemals
in der Lage sein die Hölle
zu verdauen, durch die
normale Menschen gingen,
die dort hineingehen mussten?

2. In Auschwitz

- i -

Wir sprechen kaum.
Wir sehen uns an,
stehen einander bei,
berühren nichts -
aber werden berührt,
unauslöschlich,
für alle Zeit
an einem Ort,
an dem die Seele
roh, unschützbar, unkorrumpierbar ist.

- ii -

Um die Menschen zu ehren,
denen das Menschsein verboten war,
sind einige normale menschliche Aktivitäten
hier verboten. -
Musik machen. - In den Lagern
darfst du nur der Musik zuhören,
die das Auschwitz Orchester spielen musste
direkt hinter dem Tor,
für die Neuankömmlinge
von Auschwitz I.
Aber wenn du sie wirklich hörst,
dann nur an der Stelle deines Herzens,
wo es vor Schmerz zerspringt.
Was ist noch verboten?
Gemäß den Schildern,
gemäß unserer jungen polnischen Führerin:
Rauchen, Essen, Trinken -
und auch das Reden
in den langen Reihen von Zellen -
den winzigen Stehzellen,
den dunklen Isolationszellen,
der Hungerzelle,
in der Maksymilian Kolbe starb.
Und ich füge ein Verbot
für mich ganz persönlich hinzu:
zu poetische Ausdrücke,
zu Ästhetik-bewusste Metaphern.

- iii -

Auf dem steinigen Weg
von einer Baracke zur anderen
versuche ich zu beten.
Wenn ich hier aufhöre damit,
höre ich für immer auf.
Aber ich schaffe es,
wenn auch nur ganz kurz.
Es fällt schon schwer
zu entscheiden, zu wem
ich beten soll. -
Zu Gott dem Allmächtigen,
zu Jahwe, dem "Ich bin da"?
Zu Jesus Christus,
der gelitten hat
für die Menschen
aber das Leiden der anderen
nicht verhindern konnte?
Zum Paraklet, dem Heiligen Geist?
Passenderweise gibt es keine
Kirchen, Moscheen, Synagogen
oder Tempel hier. -
Nur eine kleine Kapelle
außerhalb von Birkenau;
doch sie ist fast immer verschlossen.

Kaddisch zu sprechen wäre angebracht,
wenn auch ich ein Jude wäre,
aber ich bin ein Christ.
"Gott, der du die Gnade bist,
schenke denen deine Gnade,
die ihrer am meisten dürfen -
denen, die Christen sind,
aber nicht wie Christen handeln."

- iv -

An der Rampe von Birkenau
konnte es eine Frage von
Leben oder Tod sein,
ob du jung oder alt,
männlich oder weiblich warst,
ob du auf Krücken gingst
oder auf einen Stock gestützt
- oder nicht.
In den Pferdestallbaracken hier
war es eine Frage
von Leben oder Tod,
ob du eine extra Ration bekamst
- oder nicht,
ob du in der untersten, der mittleren
oder der obersten Koje schliefst.

Deine eintätowierte Nummer
ersetzte deinen Namen.
Du durftest nicht sagen:
"Ich habe Nummer 5659."
Du musstest sagen:
"Ich bin Nummer 5659."

Es ist eine Frage von Leben oder Tod
wo wir heute leben oder nicht leben,
ob unsere Regierung
bestimmte Gruppen von Menschen
diskriminiert oder nicht.
Wie und wo sie uns behandeln
wie Nummern
und jeden unserer Schritte registrieren.
Wenn wir es wollen, wählen oder wagen
an ihre erlogenen Begründungen zu glauben
- ‚für das Allgemeinwohl',
zu unserer Sicherheit'
- oder nicht.
Also sollten wir uns erinnern …

3. Nach Auschwitz

- i -

Auf dem Weg zu unserem Abschiedsessen,
in einem jüdischen Restaurant mit Klezmer Musik,
berührt mein Weg die Remuh Synogoge,
in der alle Lichter leuchten -
aber haben sie
die zehn erwachsenen Männer gefunden,
die nötig sind für den Sabbatgottesdienst?

- ii -

Auf dem Weg zurück zum Apartment
am Rande des Kazimierz Viertels
wird mir ein weiterer Einblick gewährt
in das Leben der letzten Juden von Krakau:
ich sehe die Männer im ‚Alten Geißbock"
sitzen - essend, trinkend, lachend.
Sie tragen ihre traditionelle
Kleidung und Haartracht.
Mein trauriges Erinnern
und ihr freudiger Sabbat
fließen in einen überfließenden Kelch,
der einer dieser persönlichen,
immateriellen Dinge ist,
die ich mit mir nehme
aus Krakau und Oswiecim.

 (Krakau, 2008; Nummer 5659 war Maksymilian Kolbes Nummer)

Frank Joußen